Textatelier
BLOG vom: 02.12.2021

Kolumnen: Neues aus der Hebelstraße, Folge III

Autor: Wernfried Hübschmann, Lyriker, Essayist, Hausen im Wiesental
Der in Hausen im Wiesental, im „Hebeldorf“ (ein Schelm, wer hier an Werkzeug denkt!) wohnende Schriftsteller Wernfried Hübschmann schreibt seit einigen Monaten regelmäßig unregelmäßig Kolumnen für die lokale „Hausener Woche“. Wir bringen hier in Abständen jeweils 3 von 15 bisher erschienenen Texte und ergänzen künftig das nachwachsende Textkraut und seine (Stil)Blüten. Viel Vergnügen!

 

Vom Talent zum Missverstehen

Nicht wenige von Johann Peter Hebels Kalendergeschichten beziehen ihren Witz und ihre Pointe aus einem Missverstehen. Das gilt auch für das berühmte „Kannitverstan“, wo unser überforderter Duttlinger sich in Amsterdam lost in translation wiederfindet, denn der Passant, den er anspricht und „der vermutlich etwas Wichtigeres zu tun hatte, und zum Unglück gerade so viel von der deutschen Sprache verstand als der Fragende von der holländischen, nämlich Nichts, sagte kurz und schnauzig Kannitverstan; und schnurrte vorüber.“ Dass der deutsche Handwerksbursche dennoch und gerade wegen (!) des Nicht-Verstehens und also „durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis“ gelangte, gehört zu jenen pädagogischen Kniffen, die Hebel nicht selten anwendet, um uns, den Leser, in den Bann seines Erzählens zu ziehen und mitzunehmen auf die lichte Bahn von Vernunft, Einsicht und Erkenntnis. In der Anekdote „Missverstand“, die ich hier anführe, ist das gutmütige Schmunzeln noch leichter zu haben. „Im 90er Krieg, als der Rhein auf jener Seite von französischen Schildwachen, auf dieser Seite von schwäbischen Kreis-Soldaten besetzt war, rief ein Franzos zum Zeitvertreib zu der deutschen Schildwache herüber. Filu! Filu! Das heißt auf gut deutsch: Spitzbube. Allein der ehrliche Schwabe dachte an nichts so Arges, sondern meinte, der Franzose frage: Wie viel Uhr? Und gab gutmütig zur Antwort: halber vieri.“ In beiden Fällen sind es also Sprachbarrieren, die, so unüberwindlich sie sind, doch am Ende zu etwas Gutem führen. Anders gesagt: das Fremde wird bei Hebel nie abgewertet. Es bleibt fremd und ist doch kein Hindernis für den Auftritt des Menschlichen. Der unverstandenen Sprache wird nichts Böses unterstellt, sondern eine wohlmeinende Absicht. Ein weiteres schönes Beispiel für stille Einfalt und edle Größe ist der „vorsichtige Träumer“, der, weil er im Traum einmal in eine Glasscherbe getreten ist, von nun an immer ein paar feste Pantoffeln anlegt, bevor er ins Bett geht. Hebel beginnt die kleine Erzählung mit der kopfschüttelnden Einsicht „Es gibt doch einfältige Leute auf der Welt.“ Nun, das gilt natürlich bis heute. Und so wollen wir festhalten, dass es uns nicht auf hohe Bildung und Faktenwissen ankommt, sondern auf Herzensgüte, Freundlichkeit, Dankbarkeit und dergleichen Tugenden mehr, deren wir heute ebenso bedürfen wie die Menschen zu Hebels Zeiten. Merke: Die Kalendergeschichten des Hausfreunds sind immer noch eine gute Lehre bei einem „Schluck in Ehre“! Nix für ungut! Ihr Wernfried Hübschmann

 

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Tage, Wochen, Ewigkeiten

Eine Notiz zu Johann Peter Hebels „Vergänglichkeit“ Stellen Sie sich vor, die „Hausener Woche“ wäre eine Tageszeitung. Gut, dann hieße sie ja nicht „Hausener Woche“, sondern vielleicht „Hausener Tagblatt“ oder „Hausen heute“ oder „Hausener Neueste Nachrichten“ oder „Hausen-Post“ oder „Hebel News“. Die andere Frage ist: Was würde denn drinstehen? Im Politikteil aktuelle Mitteilungen aus dem Gemeinderat, klar. Jede Woche eine homestory über den Bürgermeister? Interviews mit den Fußballern des FC Hausen? Schlagzeile: EM-Halbfinale im Training simuliert – wir sind bereit! Kochrezepte? Kreuzworträtsel? Im Wirtschaftsteil dann eine geschliffene Kolumne aus der Feder von Stephan Denk: „Denkanstöße“, was wiederum gut zum Fußball passen würde. Und unter „Vermischtes“ berichten Hausener Hundebesitzer über die lustigsten Begegnungen mit Menschen, Tieren und Touristen aus Stuttgart, Helsinki und Cincinnati. Schlagzeile: Bellos Jagd auf Fahrradfahrer – Einer kam durch. Würden Sie dieses Allerwelts- und Residenzblatt kaufen? Also: ich auf jeden Fall, schon von Berufs wegen. Das Dumme ist nur: Ich müsste es auch selbst schreiben. Das haben Heinrich von Kleist bei den „Berliner Abendblättern“ und Karl Kraus bei der „Fackel“ auch gemacht. Und der rheinländische Hausfreund ebenso in seinem Badischen Landkalender. Wenn ein Hausener Tagblatt am Kiosk zu kaufen wäre, sagen wir für Einsfünfzig, dann wäre es doch eine recht komplizierte Kalkulation und beim Autor kämen nur ein paar Kreuzer oder Pfennige an und es bliebe nicht genug, Weib und Kind und Hund und Katz zu nähren. Also halte ich mich lieber im Busch und komme nur einmal die Woche herausgekrochen und gehe ansonsten einträglicheren Beschäftigungen nach wie dem Schreiben von Gedichten / und dem schönen Unterrichten! Da kommt einem das große alemannische Gedicht über die „Vergänglichkeit“ in den Sinn, das Johann Peter Hebel verfasst hat. Es gibt kaum etwas Ergreifenderes als diese alttestamentarisch-düstere Szene, dieses „Gespräch auf der Straße nach Basel zwischen Steinen und Brombach, in der Nacht“, von dem Arnold Stadler sagt, es sei „zweifellos von einem Kind und Theologen ausgedacht und geschrieben“. Und der Bub seit zum Aetti: „O Aetti, sag mer nüt me! Zwor wie gohts / de Lüte denn, wenn alles brennt und brennt?“ Wer würde heute ein Huusemer Flugblatt kaufen, wenn wir Hebels „Vergänglichkeit“ darin abdrucken würden? Dazu demnächst mehr. „Hüst Laubi, Merz!“ Nix für ungut. Ihr Wernfried Hübschmann.

 

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Zum Frühstück tote Fische

oder: Abschied vom Händedruck

Auf manches, was sich in Corona-Zeiten verflüchtigt hatte, können wir getrost verzichten: den abendlichen Fluglärm, das Grölen betrunkener Fußballfans, all jene kollektiven und leeren Vergnügungen, die nur dazu da sind, etwas zu überdecken: Langeweile und innere Leere, die Rat- und Sinn- und Orientierungslosigkeit in einem Leben, das sich willig einer Konsumdiktatur unterworfen hat und sich dabei selbst verbraucht. In der modernen Warenwelt sind wir nicht mehr Kunden, sondern selbst Produkte mit Tendenz zur Serienreife, geformt von raffinierter Werbung, medialer Manipulation und Pränataldiagnostik. Der Todestag eines Menschen wird irgendwann als „Verfallsdatum“ bezeichnet werden. Das wäre nur konsequent. Anderes fehlt uns in einer Gesellschaft, in der eine Umarmung schon eine Ordnungswidrigkeit sein kann. Zum Beispiel das Ritual des Händedrucks. Sich die Hand zu geben, ist eine uralte Geste, die Friedfertigkeit signalisiert: schau, ich bin nicht bewaffnet! – gepaart mit einem freundlichen Blickkontakt, der die guten Absichten beglaubigt. Üblicherweise folgt der Begrüßung ein Gespräch, eine gemeinsame Mahlzeit, eine Arbeitssitzung oder eine andere Variante ritualisierter Kooperation. An der Art des Händedrucks lässt sich einiges über den Charakter eines Menschen ablesen. Jedenfalls erlaube ich mir, eine Hand, die ohne muskuläre Spannung wie ein toter Fisch in meine Hand gelegt wird, für befremdlich zu halten. Nun sind Händedruck und die 1,5-Meter-Abstandsregel schwer vereinbar. Wir müssen uns nah kommen, um uns näher zu kommen. Um mit einer Berührung der Handflächen etwas über den anderen zu erfahren, das aussagekräftiger sein kann als Worte, diese ewige Quelle von Missverständnissen, die schon der kleine Prinz in jenem berühmten Buch beklagt. Distanz ist das Gegenteil von Tanz. Wir werden einmal auf diese Tage zurückschauen mit dem Stossseufzer: Weisst du noch, damals, als wir uns die Hand gegeben haben! Frage: Wie muss sich unser Sehen, Schauen, Anschauen und Sprechen verändern, um das Fehlen des Händedrucks auszugleichen? Wie können wir das Hören und Zuhören als Signal von Zugehörigkeit so verfeinern, dass es uns sagt, wo wir hingehören und zu wem wir gehören? Nix für ungut! Ihr Wernfried Hübschmann

 

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